Vít Rakušan, Vizepremier, Innenminister und Vorsitzender der Bürgermeisterbewegung STAN, startete am 22. Jänner unter dem Motto "Debatte ohne Zensur" eine Tour durch Orte, an denen seine Partei in den Umfragen besonders schwach ist. Die erste Station führte ihn in die wirtschaftlich angeschlagene Bergarbeiterstadt Karviná (Karwin), inmitten des mährisch-schlesischen Kohlereviers. Neben zahlreichen Schimpftiraden auf ihn und auf die Regierung musste er sich kritischen Fragen zur Ukraine-Politik, Inflation, den hohen Strompreisen und der Einführung der Briefwahl stellen. Rakušan, der die gesamte Debatte als Live-Stream auf seinen Kanälen in den sozialen Netzwerken sendete, sprach von einer "Diskussion, die nicht einfach war". Nächste Woche werden sich in Sokolov (Falkenau a.d. Eger), Region Karlsbad, wohl ähnliche Szenen abspielen.
Kulturhaus "Centrum" im Arbeiterbezirk Karviná-Mizerov
Bild: Facebook/Vít Rakušan
Mizerov (Miserau), der siebente Bezirk von Karviná, beherbergt rund ein Fünftel der Einwohner der Stadt. Die Menschen leben in großer Sorge - einer der wichtigsten Arbeitgeber der Region, das Liberty-Stahlwerk in Ostrau, ist insolvent. Die hohe Inflation in der Tschechischen Republik ist hier besonders stark spürbar. Zum Einkaufen fährt man ins nahe Polen, dort sind die Waren etwas billiger. Früher wählte man hier sozialdemokratisch, zuletzt war Karviná eine Hochburg der populistischen ANO und der rechtsnationalen SPD.
Genau diesen Ort hat STAN-Chef Rakušan für seine erste Diskussion mit den Bürgern gewählt. Dass der Regierungspolitiker dort keineswegs willkommen war, daran herrschte von der ersten Minute kein Zweifel. "Ich bin gekommen, um zu sehen, was dieser Rakušan hier macht", sagte ein ehemaliger Bergarbeiter vor Beginn der Veranstaltung. "Er hat hier nichts zu suchen, niemand wird ihm hier eine Stimme geben", setzte er fort.
"Wann treten Sie zurück?", lautete die erste Frage aus dem Publikum. "Ich werde Sie enttäuschen, aber ich werde nicht zurücktreten", antwortete Rakušan, worauf sich minutenlange Buhrufe und "Rücktritt!"-Sprechchöre einstellten. Ein Mann ging bis auf einen Meter auf den Innenminister zu und warf ihm vor, gegen Tschechen zu ermitteln, die "Opfer ukrainischer Randalierer" geworden sind. Ein anderer rief: "Wie haben zwei Atomkraftwerke. Warum ist bei uns, verdammt noch mal, der Strom so teuer?"
Nicht selten fielen in der Debatte grobe Schimpfwörter gegen den Minister und gegen die gesamte Regierung. Besonders unter Kritik stand die Unterstützung der Ukraine durch die Tschechische Republik. Rakušan verteidigte, sofern der Lärmpegel es zuließ, die Linie der Regierung. Aber auch zu den Rentenkürzungen und zu den geringen Familienbeihilfen gab es lautstarke Wortmeldungen. Die Einführung der Briefwahl wurde sehr skeptisch aufgenommen. "Damit können die Wahlen manipuliert werden", rief jemand aus dem Publikum.
Die erste Diskussion der Reihe "Debatte ohne Zensur" dauerte an die zwei Stunden. Rakušan vertrat in dieser Zeit stets zu allen Fragen die Standpunkte seiner Partei und die der Regierung. In Karviná-Mizerov wird er dadurch wohl keine einzige Stimme gewonnen haben. Gegen Ende der Veranstaltung zollte ihm aber auch ein Teil der Anwesenden Respekt dafür, dass er sich als erstes Mitglied der Regierung Zeit genommen hat, um mit den einfachen Leuten in einen Dialog zu treten.
"Das war nicht einfach. Aber unser Land wird nicht vorankommen, wenn es keine freie Debatte gibt, wenn wir vor Kritik davonlaufen und die Probleme nicht direkt angehen", resümierte der Vizepremier auf Facebook. "Danke Karviná, und ich freue mich schon auf nächsten Montag in Sokolov", ergänzte er, was ihm eine Reihe hämischer Kommentare einbrachte.
Politologen bewerten die Aktion als "politisches Marketing"
Nach der ersten "Debatte ohne Zensur" dauerte es nicht lange, bis sich die ersten Kritiker dieser Aktion zu Wort meldeten. Der Tenor: Rakušan sei an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Bevölkerung nicht viel interessiert, er benütze die Wutbürger vornehmlich als Kulisse, um seine eigenen Anhänger für sich zu mobilisieren.
"Es ging nicht um die paar Dutzend Einwohner von Karviná, die kamen, um Rakušan zu verfluchen. Es wurde vor einem viel größeren Publikum gespielt. Zigtausende Zuschauer in den sozialen Netzwerken, wo das STAN-Team die Show mit mehreren Kameras live übertrug", kommentierte der Kolumnist Jan Stránský für den Nachrichtenserver Seznam Zprávy. "Mit ähnlicher Denkweise präsentierte sich vor einem Jahr das Team von Petr Pavel im Präsidentschaftswahlkampf, das sich vor der zweiten Runde gegen ANO-Chef Andrej Babiš auf die Stellen konzentrierte, an denen Pavel in der ersten Runde schlecht abgeschnitten hatte. Dass dies kein Zufall ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Stratege von Pavels damaligem Wahlkampf und jener aktuell bei STAN dieselbe Person ist - der slowakische Experte Michal Repa", meinte Stránský.
"Es ist klar, dass Rakušan niemanden aus dem Lager der Zuhörer in Karviná gewinnen wird, es ist ausschließlich für unentschlossene STAN-Anhänger und Wähler gedacht, die zwischen STAN und anderen Parteien schwanken“, beurteilte der Politikwissenschaftler Pavel Šaradín von der Palackýuniversität in Olmütz die erste "Debatte ohne Zensur".
Ihm zufolge ist die Handschrift Repas sichtbar. "Es ist sicherlich vergleichbar mit dem Präsidentschaftswahlkampf. Bei einer Einzelperson ist die Strategie natürlich einfacher als bei einer ganzen politischen Partei. Leider beginnt STAN erst mehr als zwei Jahre nach der Wahl und in einem Wahljahr, mit den Wählern zu kommunizieren. Da kommt der Verdacht der Berechnung auf", urteilte Šaradín.
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