Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nutzte einen Auftritt vor der ungarischen Minderheit im rumänischen Bad Tuschnad (Băile Tușnad), um die tschechische Präsidentschaft der Visegrád-Gruppe (V4), allen voran Premier Petr Fiala (ODS) heftig zu kritisieren. Orbán meinte, den europäischen Föderalisten sei es gelungen, "die Tschechische Republik auf ihre Seite zu ziehen, indem sie die Visegrád-Gruppe angegriffen haben". Mit dieser verbalen Attacke reagierte er auf Fialas Vorwurf, Ungarn und Polen hätten unverantwortlich gehandelt und den EU-Gipfel Ende Juni platzen lassen. Tschechien hat mit Juli 2023 für ein Jahr die Präsidentschaft der Visegrád-Gruppe übernommen.
Logo der tschechischen V4-Präsidentschaft 2023/2024
Bild: Ministerstvo zahraničních věcí ČR
Orbán bemerkte, dass die Slowakei nun zögere und die einzigen V4-Mitglieder, die die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten verteidigen, Ungarn und Polen seien. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr werden ein Kampf zwischen "Föderalisten und Souveränisten" sein, so Orbán. Der tschechische Premier Fiala erklärte in einer Antwort an die tschechische Presseagentur ČTK, dass "die absurde Etikettierung der notwendigen Zusammenarbeit zwischen den mitteleuropäischen Ländern nicht dienlich sei".
"Die Föderalisten haben die V4 angegriffen, und wir alle sehen das Ergebnis: Die Tschechen sind im Grunde genommen (zur föderalistischen Seite) übergelaufen, die Slowakei dümpelt vor sich hin, nur die Polen und die Ungarn halten durch", sagte Orbán. Es bestehe jedoch die Hoffnung, dass das Lager der Befürworter einer schwächeren EU und einer größeren Souveränität der Mitgliedsstaaten wachsen werde, zum Beispiel in Italien, Österreich und Spanien. (Orbán tätigte diese Aussage vor den spanischen Parlamentswahlen.) Der Föderalismus auf EU-Ebene wird laut Orbán vor allem von Deutschland und Frankreich unterstützt.
Nach Ansicht des ungarischen Ministerpräsidenten streben die föderalistischen Kräfte offen einen Regierungswechsel in seinem Land an. Sie unterstützten die Opposition und nutzen dazu "alle Mittel der politischen Korruption". Laut Orbán tun sie dasselbe in Polen, wo das nationalkonservative Kabinett von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki an der Macht ist.
Ungarn und Polen sind seit langem enge Verbündete in der EU, aber ihre engen Beziehungen wurden in letzter Zeit durch Meinungsverschiedenheiten über Russlands Aggression gegen die Ukraine zerrissen. In Polen stehen im Herbst Parlamentswahlen an, genauso wie in der Slowakei, wo Ex-Premier Robert Fico möglicherweise wieder ins Amt gewählt wird und angekündigt hat, den pro-ukrainischen Kurs seines Landes aufgeben zu wollen.
"Die Tschechische Republik ist ein souveränes Land und meine Regierung verteidigt unsere nationalen Interessen. Wir entscheiden selbst, was wir in der EU fördern, unterstützen oder verändern wollen. Premierminister Orbán war etwas anderes gewohnt, weil Andrej Babiš in der Europapolitik von ihm abhängig war. In diesem Sinne kann man seine Frustration verstehen. Aber absurde Etikettierungen werden der notwendigen Zusammenarbeit zwischen den mitteleuropäischen Ländern, die im Gegenteil gegenseitigen Respekt erfordert, sicher nicht helfen", antwortete Fiala über den Regierungssprecher Václav Smolka.
Innenminister Vít Rakušan (STAN) kommentierte die Äußerungen Orbáns auf Twitter. "Die einzige Veränderung, die die Tschechische Republik in Bezug auf die EU durchgemacht hat, ist der Wechsel vom Opportunismus zu einer konstruktiven europäischen Politik, die auf gemeinsamen Werten basiert. Wir vertreten einfach nicht mehr die Position: 'Gebt uns unsere Subventionen und behaltet euren Verstand'", schrieb Rakušan auf Twitter.
In seiner Rede geißelte Orbán auch die Politik der EU gegenüber der LGBT+-Gemeinschaft und in der Frage der Migration. Er kritisierte auch die Tatsache, dass die EU ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit durch die gegen Russland verhängten Sanktionen nach der Invasion in der Ukraine geschwächt hat. Der starke Mann Ungarns sprach auch über China, das seiner Meinung nach die neue Weltmacht geworden ist. "Die Millionen-Dollar-Frage ist, ob die Konfrontation zwischen China und den USA vermieden werden kann", sagte Orbán.
Eine Menge von Menschen mit rumänischen Fahnen protestierten vor dem Veranstaltungsort, an dem Orbán sprach, gegen den ungarischen Ministerpräsidenten. Die Region Siebenbürgen, in der sich die Stadt Băile Tușnad befindet, war früher Teil des Königreichs Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel sie an Rumänien. In diesem Zusammenhang schenkten die rumänischen Medien der Passage in Orbáns Rede besondere Aufmerksamkeit, in der er ihrer Meinung nach indirekt die Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Rumänien in Frage stellte.
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