Das Halbzeit-Zeugnis, dass die Fünferkoalition aus ODS, TOP'09, KDU-ČSL, Piraten und STAN von der tschechischen Bevölkerung erhalten hat, ist voller "Fünfer" (nach dem österreichischen Schulnotensystem). Genau am Tag der Gewerkschaftsproteste vom 27. November veröffentlichte das Prager Meinungsforschungsinstitut STEM sein neuestes Wahlmodell zur Sonntagsfrage - und dieses ist aus Sicht der Regierung erschütternd. Am Protesttag konnte man die Gründe für das schlechte Abschneiden der Koalition recht gut nachvollziehen: Anstatt sich der Kritik der Gewerkschaften zu stellen und seinen eigenen Standpunkt darzulegen, flüchtete der Premier diesen Tag aufs Land. Auch Menschen, die den Oppositionsparteien nicht nahe stehen, finden diese Kommunikationsverweigerung verstörend. Für den 2021 abgewählten Andrej Babiš (ANO) ist die derzeitige Situation ein aufgelegter Elfmeter. Er kann jetzt sein Naturtalent, Menschen mit einfacher Sprache für sich zu gewinnen, voll ausspielen.
Sonntagsfrage November 2023: ANO im Höhenflug
Grafik: STEM
Das Wahlmodell vom Institut STEM bestätigt die dominante Rolle der populistischen ANO-Bewegung (33,2%) auf der tschechischen politischen Bühne. Nach den Turbulenzen des letzten Jahres nähert sich die rechte SPD mit 12% wieder ihren früheren Höchstständen und verweist die Premier-Partei ODS (11,6%) auf den dritten Platz. Zweistellig sind noch die Piraten (10,2%), während die weiteren Koalitionspartner STAN (6,4%) und TOP'09 (5,2%) schwächeln. Die Christdemokraten (KDU-ČSL), deren Parteichef das undankbare Sozialressort verantwortet, liegen bereits weit unter der 5%-Hürde. Die Unterstützung für die Regierungsparteien ist seit der Wahl kontinuierlich zurückgegangen.
Die Regierung hat in nahezu allen Bereichen das Vertrauen verloren. Lediglich in der Gruppe der jüngsten Wahlberechtigten liegen die Piraten vorne, und unter den Akademikern ist die ODS nach wie vor die stärkste Kraft. Am stärksten ist das Umfragedebakel der Koalition in der Altersgruppe über 60 Jahre zu erkennen. Die Seniorinnen und Senioren sind in Reaktion auf die Rentenreform zu 49 Prozent ins Babiš-Lager übergelaufen.
Die detaillierten Ergebnisse der Umfrage, die in den ersten beiden Novomberwochen - also noch vor dem Gewerkschaftsprotest - durchgeführt wurde, kann man über diesen Link (tschech.) nachlesen.
Politischer Analyst spricht klare Worte
"Arroganz" und "Inkompetenz" vermittelt die Regierungskoalition, während Babiš "menschlich" spricht. So fasst der politische Analyst von Seznam zprávy, Jindřich Šídlo, das politische Kommunikationsverhalten zusammen. Premier Fiala und seine Regierung werden nicht nur für ihre politischen Entscheidungen abgestraft, sondern auch für die Art und Weise, wie sie diese nach außen transportieren. "Sie erklären die Maßnahmen arrogant, ungeschickt und mit einem außerordentlichen Maß an Inkompetenz", so Šídlo wörtlich.
Dem Kommentator zufolge sollte sich Fialas Kabinett von Babiš in einer menschlicheren Art der Kommunikation inspirieren lassen und keine Ausdrücke wie "Konsolidierung der öffentlichen Finanzen" verwenden, die für viele Menschen unverständlich sind. Er erinnerte auch an den Ausspruch von Gesundheitsminister Vlastimil Válek in Bezug auf den Medikamentenmagel: "Wenn jemand hundert Apotheken anruft, wird er bestimmt auf eine stoßen, in der Nurofen erhältlich ist." Šídlo stellte auch die flapsige Aussage von Industrieminister Jozef Síkela (parteilos, von STAN nominiert) als Negativbeispiel an den Pranger: "Strom verteuert sich nicht. Die Regierung hört einfach auf, den Preis zu subventionieren", sagte der Minister im Parlament.
Es gäbe durchaus auch Gründe, die Regierung Fiala zu loben - etwa die EU-Präsidentschaft, die gut über die Bühne gebracht worden ist. "Aber auch das hat einen Haken", meinte Šídlo. "Solche Dinge verlieren für Wähler an Bedeutung, wenn sie sich um ihre Stromrechnung kümmern und sich Sorgen darüber machen, welche Auswirkungen die Maßnahmen auf sie haben werden."
Der Polit-Analyst bezeichnete Premier Fiala als "tschechische Frau Merkel". Vielleicht ist es doch ein gutes Omen für den Regierungschef? Angela Merkel regierte immerhin 16 Jahe lang.
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